Wunder gibt es immer wieder (25)

Written by Admin. Posted in Denkfehler, News

„Das Wunder“ heißt der 23. Denkfehler in dem Büchlein über 52 Denkfehler von Herrn Dobelli. Im Untertitel steht „Die Notwendigkeit unwahrscheinlicher Ereignisse“ und somit sogleich der nächste Denkfehler bzw. Unsinn. Denn sicherlich ist nicht jedes auch noch so unwahrscheinliche Ereignis notwendig. Allzu häufig ist eher das Gegenteil der Fall und wir hätten gerne darauf verzichtet.

Dem Denkfehler fehlt zu meinem großen Erstaunen ein passender Begriff. Er kommt obendrein ohne englische Bezeichnung daher und wird einfach nur umschrieben. Es geht darum, dass Menschen das Auftreten von Ereignissen mit geringen Eintrittswahrscheinlichkeiten ebenso wie die Eintrittswahrscheinlichkeiten an sich unterschätzen.

Illustriert wird dies am Beispiel eines Kirchenchors, der sich an einem Abend zur üblichen Chorprobe in der örtlichen Kirche treffen wollte. Die 15 Chormitglieder und der Chorleiter kamen aus verschiedenen Gründen zu spät, was sich für alle als ein besonderes Glück entpuppte. Die Kirche explodierte aufgrund eines Gaslecks 10 Minuten nach dem offiziellen Beginn der Chorprobe und das Dach stürzte ein, ohne dass irgendjemand zu Schaden kam.

Im zweiten Beispiel dient unser Denkfehlertheoretiker selbst als Beweis für die Existenz des Denkfehlers. Er schreibt, dass er an einen „ehemaligen Schulkollegen“ namens Andreas gedacht hatte und „plötzlich klingelte das Telefon“ und es war genau dieser „Schulkollege“, was unseren Denkfehlertheoretiker zu dem Ausruf „Das muss Telepathie sein!“ veranlasste. Selbstverständlich versäumt es unser Denkfehlertheoretiker nicht, explizit darauf hinzuweisen, dass ihm ein derart irriger Fauxpas nur „in einem Anflug von Begeisterung“ aus dem Mund oder gar aus dem Hirn entfleuchen konnte. Wir kommen später auf das Andreas-Phänomen zurück.

Nach einem weiteren Beispiel greift der Denkfehlertheoretiker seine Empfehlung aus einem früheren Denkfehler „The Authority Bias“ auf und wird respektlos gegenüber Carl Gustav Jung, dem er in den Mund legt, dass dieser in solchen Ereignissen „das Wirken einer unbekannten Kraft“ sah, „die er Synchronizität nannte“. Mit einem Mangel an Respekt fragt sich unser Denkfehlertheoretiker: „Wie geht ein klar denkender Mensch an solche Geschichten heran?“, wobei er natürlich sich selbst meint, da der Rest der Menschheit und auch Herr Jung von schweren Denkfehlern befallen sind. Carl Gustav Jung mangelte es aus Sicht des Denkfehlertheoretikers an der großen Klarheit, wie sie ihn selbst auszeichnet, und an Denkvermögen. Wenn Sie Herrn Dobelli, also unseren Denkfehlertheoretiker, nicht kennen, macht das nichts. An ihn wird man sich schon in wenigen Jahren genauso wenig erinnern, wie an mich oder meine Gedanken und Überlegungen. Bei Herrn Jung sieht das etwas anders aus. Seine Gedanken wirken weiterhin, wenn Sie ihn noch nicht kennen, lohnt eine kleine Recherche zu seiner Person und seinem Wirken. Er ist Begründer der analytischen Psychologie und darf sicherlich in einem Atemzug mit Siegmund Freud genannt werden, zumal die beiden sich kannten, jedoch grundlegend andere Positionen vertreten haben. Freud geht in seiner Libidotheorie von einer Triebsteuerung des Menschen, insbesondere durch den Sexualtrieb, aus. Jung erweiterte diese Betrachtung um unbewusste Anteile der menschlichen Psyche. Jung brachte den Begriff des kollektiven Unbewussten ein und er differenzierte zwischen archetypischen Dimensionen der Psyche. Er ging davon aus, dass das Unbewusste einen wesentlich größeren Einfluss hat, als die bewusste Wahrnehmung. Jungs Überlegungen und Gedanken haben einen erheblichen Einfluss auf die Forschung in verschiedenen Disziplinen gehabt. Seine Überlegungen sind stark kritisiert worden und einige Ansätze wurden „widerlegt“, was seinen grundlegenden Einfluss jedoch keineswegs mindert. Dem interessierten Leser seien für weitere Ausflüge die Weiten des World Wide Web empfohlen, in denen sich hinreichend Material findet, um sich weiter mit Herrn Jung zu beschäftigen.

So viel in Kürze zu dem durchaus klaren Denken von Carl Gustav Jung. Nun zurück zu den „klaren Gedanken“ unseres Denkfehlertheoretikers. Zur Auflösung des Denkfehlers bezüglich der explodierten Kirche sollen wir uns das folgende Vier-Felder-Schemata aufmalen:

 

Chor verspätet

Kirche explodiert

 

Chor nicht verspätet

Kirche explodiert

 

Chor verspätet

Kirche explodiert nicht

 

Chor nicht verspätet

Kirche explodiert nicht

Dann sollen wir in jedes Kästchen die von uns geschätzten Häufigkeiten schreiben und dabei daran denken, dass „täglich in Millionen von Kirchen … ein Chor zur abgemachten Zeit“ probt „und die Kirche nicht explodiert“.

So, wenn Sie nun zumindest gedanklich kurz ein paar Zahlen in jedes Feld eingetragen haben, geschieht laut Denkfehlertheoretiker ein wahres Wunder: „Plötzlich hat die Geschichte nichts Unvorstellbares mehr. Im Gegenteil, es wäre unwahrscheinlich, wenn es bei Abermillionen von Kirchen nicht einmal im Jahrhundert zu einem solchen Ereignis käme.“

Bei mir ist dieser Effekt nicht eingetreten. Ich habe ein wenig nachgedacht und Küchenstatistik angewendet. Wie viele Mitglieder hat so ein Chor? Im Beispiel des Denkfehlertheoretikers sind es circa 15. Wie wahrscheinlich ist es, dass die alle zu spät kommen, und zwar an einem ganz normalen Tag, also ohne dass es einen gemeinsamen Grund wie beispielsweise ein Unwetter für das Zuspätkommen gäbe? Bedenken Sie, dass es in fast jedem Kirchenchor Käthe Schmitz und einen Hubert Müller gibt (die beiden Namen stehen hier natürlich nur stellvertretend für die vielen 100-prozentig Verlässlichen), beide mittlerweile im Ruhestand und beide haben in ihrer über 50 jährigen Chormitgliedschaft noch nie gefehlt, und zu spät waren sie ebenfalls noch nicht ein einziges Mal. Es mag sein, dass Kirchen explodieren (wobei mir mit meinen mittlerweile 50 Lenzen kein einziger Fall in Erinnerung ist), aber dass Käthe und Hubert zu spät kommen und dann auch noch beide am gleichen Tag, ist mehr als nur unwahrscheinlich.

Wie viele Kirchen werden geheizt? Wie viele mit Gas? In wie vielen Gemeinden findet die Chorprobe überhaupt noch in der (kalten) Kirche statt und in wie vielen Gemeinden probt der Kirchenchor im Gemeindezentrum?

Der Vorfall bleibt auch nach dem Aufmalen von 4 Kästchen extrem unwahrscheinlich, oder?

Mit welcher Logik sollte sich die Eintrittswahrscheinlichkeit für ein derartiges Ereignis auch erhöhen, nur weil wir ein paar mit 100-prozentiger Wahrscheinlichkeit falsche Zahlen in jedes der vier Kästchen schreiben? Denn dass unsere Schätzungen auch nur annähernd richtig sind, können wir wohl ausschließen. Dass die Schätzungen unseres Denkfehlertheoretikers richtig sind, können wir ebenfalls ausschließen. An dieser Stelle sei an seine Schätzung von ca. eine Million Ökonomen weltweit erinnert, die er in seinem Büchlein gleich mehrfach wiederholt, was seine Schätzung jedoch keineswegs richtiger werden lässt.

Falsche Schätzungen helfen uns auch beim „Andreas-Phänomen“ nicht weiter. Wir sollen daran denken, wie oft Andreas an uns und wir an ihn denken und wir, also weder er noch Sie, ihren alten Schulkollegen nicht angerufen haben. Wenn Sie dabei nun noch die Logik des Denkfehlertheoretikers bemühen, „klingelt gleich ihr Telefon“. „Da Menschen etwa 90 % ihrer Zeit an Menschen denken, wäre es unwahrscheinlich, wenn es nie passieren würde, dass zwei Menschen aneinander denken und einer davon auch noch zum Hörer greift.“ Allerdings scheint hierdurch auch dem Denkfehlertheoretiker das „Andreas-Phänomen“ noch nicht hinreichend gelöst, denn es wird ergänzt, dass es nicht zwingend Andreas sein muss, der uns anruft. „Wenn Sie noch 100 andere Bekannte haben, erhöht sich die Wahrscheinlichkeit um den Faktor 100.“ Dem ist hinzuzufügen, dass die Wahrscheinlichkeit noch bedeutend höher wird, wenn Sie ein Telefon haben.

Wenn Sie noch 100 andere ehemalige Schulkollegen haben, erhöht sich zunächst lediglich die Wahrscheinlichkeit, dass sie sitzen geblieben sind, und vermutlich sogar mehrere Ehrenrunden gedreht haben. Schwachsinnig ist natürlich die Aussage, dass sich die Eintrittswahrscheinlichkeit bei 100 weiteren Bekannten um den Faktor 100 erhöhen würde. Dies würde voraussetzen, dass Ihr Verhältnis zu allen 100 Schulkollegen gleichermaßen gut bzw. intensiv war, was man bei den meisten Menschen wohl ausschließen kann, selbst bei den äußerst beliebten Schülern – ob unser Denkfehlertheoretiker zu dieser Kategorie zählte?

Richtig ist, dass wir im Schätzen von Wahrscheinlichkeiten einige Eigenheiten haben. Wenn es um Risiken (Ausgaben, Gefahren, Verluste) geht, messen wir kleinsten Wahrscheinlichkeiten eine hohe und zu hohe Bedeutung bei – wir überschätzen die Risiken und handeln entsprechend. Stürzt ein Flugzeug ab, fliegen wir weniger. Nach Attentaten meiden wir bestimmte Orte. Aktuell machen weniger Ausländer Städtereisen innerhalb Europas. Wir sind risiko- bzw. verlustavers, was sich mit Blick aufs Überleben als sehr gute Strategie der Menschheit erwiesen hat.

Wenn es um Gewinne und Chancen geht, sieht es ähnlich aus, wir überschätzen die Chancen und die vermeintlichen Gewinne. Die Chance beim Lotto zu gewinnen, liegt bei ca. 1:140.000.000 und ist somit äußerst gering. Das hält viele nicht davon ab, es trotzdem zu versuchen. Alle, die gewonnen haben, sind sich sicher, dass sie alles richtig gemacht haben. Scheint also grundsätzlich auch nicht so falsch zu sein.

In Kombination wird es noch interessanter. Das Krebsrisiko, das wir unbedingt verringern wollen, schätzen die meisten Menschen höher ein, als es vermeintlich ist. Dieses wahrgenommene Risiko trifft in der Praxis auf die Chance, den Krebs frühzeitig mittels entsprechender Untersuchungen zu erkennen. Die Sterblichkeit an Brustkrebs wird durch die Früherkennung mit der Mammographie um 25 Prozent gesenkt. Das bedeutet, dass von 1.000 vierzig- bis siebzigjährigen Frauen, die zehn Jahre lang regelmäßig zum Brustscreening gehen, drei an Brustkrebs sterben. Um diese Zahlen nun verstehen und bewerten zu können, muss man wissen, dass von jeweils 1.000 Frauen, die nicht zum Brustscreening gehen, vier an Brustkrebs sterben. Mit Screening also eine weniger, womit man bei 25 Prozent angelangt wäre. Obwohl also nur 1 von 1.000 weniger an Brustkrebs stirbt, rennen Millionen Frauen regelmäßig zum Brustkrebsscreening. Einige renommierte Wissenschaftler vertreten übrigens die Auffassung, dass das Screening die Sterblichkeit durch Brustkrebs gar nicht verringern kann. Die Gesamtsterblichkeitsrate scheint nämlich mit oder ohne Screening ziemlich identisch zu sein. Die Bücher von Gerd Gigerenzer, aus denen die hier zitierten Angaben stammen, möchte ich an dieser Stelle allen Interessierten empfehlen. Es hilft, sich bei Wahrscheinlichkeiten, besonders bei bedingten Wahrscheinlichkeiten, die absoluten Zahlen oder Häufigkeiten aufzuschreiben. Diese sollten allerdings nicht wie bei unserem Denkfehlertheoretiker und seinem Vier-Felder-Schemata auf eigenen Schätzungen, sondern nach Möglichkeit auf belastbaren Angaben beruhen.

Richtig ist schlussendlich das Fazit zum Wunder: „Unwahrscheinliche Zufälle sind … zwar seltener, aber durchaus mögliche Ereignisse. Es ist nicht überraschend, wenn sie vorkommen. Überraschender wäre es, wenn sie nie stattfinden.“ Sicherlich kann unser Denkfehlertheoretiker die unwahrscheinlichen Zufälle messerscharf von den wahrscheinlichen Zufällen abgrenzen. Dass jedoch die Denkfehlertheorie es überraschend findet, wenn die unwahrscheinlichen Ereignisse nie stattfinden, überrascht mich wiederum. Es gibt sehr wohl Ereignisse, die nie stattfinden, oder was meinen Sie?

Ebenfalls sehr überraschend ist, dass etwas überraschender sein soll, was nie eintritt, als etwas, das eingetreten ist – obwohl das eigentlich für mich nun doch nicht überraschend ist, sondern überraschenderweise ein Denkfehler zu sein scheint.

Ich schließe mich abschließend Katja Ebstein an: „Wunder gibt es immer wieder, heute oder morgen können sie geschehn. Wunder gibt es immer wieder, wenn sie dir begegnen, musst du sie auch sehn.“ Halten Sie die Augen auf!