So, wie es die anderen machen (4)
Der vierte der 52 Denkfehler nennt sich „Social Proof“ und es geht um die Orientierung an dem, was andere bzw. viele machen. Sie gehen spazieren und kommen an einer Menschenmenge vorbei, die nach oben schaut. Genau, Sie gucken auch nach oben. Sie wollen zu einem Konzert, stellen ihren Wagen auf einem Parkplatz ab, wissen aber nicht, in welche Richtung die Konzerthalle liegt. Genau, Sie laufen in die Richtung, in die alle anderen gehen.
Wir verhalten uns oft so, wie es die anderen tun. Dahinter steht die Annahme, „je mehr Menschen eine Idee richtig finden, desto korrekter ist diese Idee – was natürlich absurd ist.“, womit wir beim nächsten Denkfehler angekommen sind. Einmal davon abgesehen, dass ich korrekt nicht steigern würde, weil es berichtigt, einwandfrei und frei von Fehlern bedeutet, sollten wir uns fragen, ob es sich dabei wirklich um einen Denkfehler handelt, wenn wir uns am Verhalten anderer orientieren und uns klares Denken, was dem vermeintlich einzig korrekten Denkansatz entspricht, weiter bringen würde, und wir es nicht täten.
Stellen wir uns vor, die in den Himmel schauende Menschenmenge beobachtet die erste Landung eines außerirdischen Flugobjekts auf unserer Erde. Wenn Sie nicht nach oben schauen, wären Sie der einzige anwesende Depp, der dieses einmalige Ereignis nicht gesehen hätte. Das könnten Sie sicherlich noch Ihren Enkelkindern erzählen – ich war dieser Depp, der genau darunter stand und es nicht gesehen hat, obwohl es direkt vor meinen Augen geschehen ist.
Sie können auf dem Parkplatz die Gehrichtung der anderen ignorieren und in die entgegengesetzte Richtung laufen. Wenn Ihre Partnerin oder Ihr Partner sich Ihrem einsamen Weg anschließt, führt dies mit an 100 % grenzender Wahrscheinlichkeit zu interessanten Diskussionen, aber nicht zur Konzerthalle. Das gilt übrigens mit ebenso hoher Wahrscheinlichkeit für den Fall, dass Sie zusätzlich behaupten, Sie wüssten ganz genau, wo sich die Halle befindet. Wetten dass?
In diesem Kontext gerne zitiert und als Begründung dafür verwendet, dass es sich um einen Denkfehler handelt, wird das 1951 veröffentlichte Konformitätsexperiment von Solomon Asch. In diesem Experiment wurde der Gruppenzwang anhand der Schätzung unterschiedlich langer Linien getestet. Jeweils eine Testperson traf dabei auf eine kleine Gruppe eingeweihter Personen. Die Aufgabe bestand darin, die Längen verschiedener Linien im Vergleich zu einer Referenzlinie anzugeben bzw. einzuschätzen.
Die Frage war, welche der Linien A, B oder C der Länge der Vergleichslinie X entsprach. Während bei den ersten Runden die Gruppe der Eingeweihten zunächst korrekt antwortete, änderte sie im weiteren Verlauf ihr Antwortverhalten und entschied sich unisono für eine falsche Linie, im Beispiel für die Linie C. Die Schätzungen mussten jeweils einzeln laut vorgetragen werden und waren somit wechselseitig transparent. Solomon Asch wollte mit diesem Experiment testen, inwieweit Menschen sich der Mehrheitsmeinung anschließen. Die Testpersonen passten sich bei circa einem Drittel der Durchgänge trotz offensichtlicher Fehlentscheidung der Mehrheit an.
Allerdings, und diese Aussage findet man schon nicht mehr in allen Beschreibungen des Experiments, blieb ein Viertel aller Versuchspersonen standhaft und schloss sich in keinem der pro Test insgesamt 12 manipulierten Durchgänge der falschen Mehrheitsmeinung an.
Wenn die Ergebnisse von Studien zur eigenen Auffassung und zur subjektiven Wahrheit passen, werden sie selten in Frage gestellt. Eine Empfehlung lautet: Genau dann, wenn Studienergebnisse Ihre eigene Meinung untermauern, sollten Sie skeptisch sein und die Studie und deren Methodik auf den Prüfstand stellen. Was wurde beim Asch-Experiment eigentlich überprüft? Stellen Sie sich vor, Sie würden an einem solchen Experiment teilnehmen, bei dem es für Sie um rein gar nichts geht. Hätten Sie Lust über die Länge eines Strichs mit sechs aus Ihrem Blickwinkel offenkundig nur wenig belichteten Personen zu diskutieren oder wollten Sie wiederholt ungläubige Blicke einer Gruppe ziemlich merkwürdiger Leute auf sich ziehen? Es spricht durchaus viel dafür, dass ein Großteil der Menschen der Auffassung ist, dass die Länge eines Strichs eine Diskussion nicht wert ist. Unterstützt wird diese These dadurch, dass auch nur ein Abweichler von der falschen Gruppenmeinung, der sich somit auf die Seite des Probanden stellt, sofort zu einem signifikant anderen Ergebnis führte. Ebenfalls zeigte sich, dass sich sobald die Testperson ihre Schätzungen nicht mehr laut nennen, sondern aufschreiben konnte, der Anteil richtiger Antworten signifikant anstieg.
Meines Wissens gibt es keine einzige Studie, auf deren Grundlage „Social Proof“ generell als „Denkfehler“ der Menschheit einzustufen wäre. Trotzdem wird uns die Orientierung am Verhalten anderer als Denkfehler, als unnützes Erbgut aus früheren Zeiten verkauft, was wir lediglich in Urzeiten gebraucht hätten, damit uns kein Löwe frisst. Wenn unsere Sippe flieht, sollten wir mitrennen, das sichert das Überleben. Heute würde dieses Verhaltensmuster nicht mehr gebraucht, es sei aber „so tief in uns verankert, dass wir es noch heute anwenden, auch dort, wo es keinen Überlebensvorteil bringt.“
„Social Proof“ ist allerdings überhaupt keine menschliche Eigenschaft, bei der es nur ums Überleben geht. Die Orientierung am Verhalten der anderen hat sich in vielen Bereichen als sehr hilfreich erwiesen. Ich finde Hotelbewertungen klasse und äußerst hilfreich. Auch die Bewertungen von Restaurants haben mich schon zu manch gutem Essen und erst kürzlich zu einem hervorragenden Wiener Schnitzel in Wien geleitet. Ich vertraue nicht immer der mir dargebotenen Rangfolge und wähle nicht grundsätzlich die Nummer 1, sondern bilde mir basierend auf den Bewertungen mein eigenes Urteil. Die Erfahrung zeigt, dass die Bewertungen überwiegend sehr verlässlich sind. Und auch die Google-Suche liefert auf Basis des Wissens der Masse vielfach unglaublich gute Treffer.
Schon rein statistisch muss das Wissen vieler größer sein als das Wissen einzelner. Ähnlich den statistischen Auswahlverfahren kann eine heterogene Gruppe individueller Einzelentscheider eher die Gesamtheit aller möglichen Ausgänge eines Ereignisses repräsentieren und damit bessere Voraussagen für die Zukunft treffen. „Die Weisheit der Vielen“ ist groß und James Surowieck zeigt in seinem gleichnamigen Buch auf, dass kumulierte Entscheidungen in Gruppen oft besser sind als die Lösungsansätze einzelner, zum Teil hoch intelligenter Experten. Zudem hat er zahlreiche Beispiele zusammengetragen, anhand derer er verdeutlicht, dass die Menge in der Regel intelligenter und effizienter entscheidet als der klügste Einzelne in ihren Reihen.
Selbstverständlich gibt es von dieser Regel, wie von allen Regeln, Ausnahmen. Bei diesen Ausnahmen verhält es sich umgekehrt als bei dem ersten unserer Denkfehler, dem Überlebensirrtum. Zur Erinnerung: Ein einziger Überlebender oder eine besondere Erfolgsstory erlangen besondere Aufmerksamkeit und darum überschätzen wir Erfolgswahrscheinlichkeiten. Wenn sich viele irren und daneben liegen, findet dieser Irrtum ebenfalls eine größere Öffentlichkeit als dies bei den Irrtümern Einzelner der Fall ist. Ein solcher Irrtum wird übrigens sehr schnell zum Massenwahn. Und die Beispiele für Massenwahn sind in der Regel einprägsamer, weil häufig gravierender, als der Einzelirrtum.
Affen machen es übrigens auch, also das Verhalten anderer imitieren. Schimpansen schauen sich bei Artgenossen ab, wie man Werkzeuge benutzt. Wenn Affen das machen, kann es so doof doch gar nicht sein. Insofern sollten wir uns ruhig weiter am Verhalten anderer orientieren, natürlich nur, wenn es sinnvoll ist und anderen nicht schadet. Über diesen Aspekt dürfen Sie gerne noch einmal nachdenken.