Fast alle erleben Stress
Laut einer Studie von ADP mit dem vielsagenden Namen „The 2015 Workforce View in Europe“ erleben ca. 90 % aller Beschäftigten in Europa Stress am Arbeitsplatz. Befragt wurden mehr als 11.000 Beschäftigte in acht Regionen Europas (Näheres finden Sie im Pressebereich bei www.de-adp.com).
90 % aller Beschäftigten erleben also Stress am Arbeitsplatz. So eine Aussage hilft einem Unternehmen, dass Dienstleistungen anbietet, damit man im globalen „War of Talents“ zu den Gewinnern zählt. Auf den ersten Blick klingt das schlimm. Aber nur auf den ersten Blick. Wir erleben vermutlich alle (sagen wir bis auf ganz wenige Ausnahmen) ab und an Stress. Geht’s uns schlecht dabei? Nein! Den meisten von uns geht es trotz und manchmal sogar wegen dieses Stresses gut. Mitarbeiterbefragungen zeigen, dass ein Großteil aller Mitarbeiter mit seinem Arbeitgeber und den Arbeitsbedingungen insgesamt sehr zufrieden ist. Aber die Frage wurde scheinbar nicht gestellt. Stattdessen wurde gefragt, was die Arbeitnehmer sich wünschen.
In der Presseveröffentlichung steht: „Zum Schutz vor Burnout und anderen Stresserkrankungen wünschen sich daher immer mehr Angestellte ein besseres Gleichgewicht zwischen Arbeit und Privatleben.“ Zur Entlastung der Arbeitnehmer werden flexible Arbeitszeitregelungen gefordert und das Engagement und die Motivation der Mitarbeiter sollen mit vielfältigen Arbeitsaufgaben gefördert werden. „Achtsamkeit und Arbeiten mit Sinn“ werden von bislang „verschämten Geheimtipps“ zu den neuen „Trendbegriffen“ erklärt.
Da sind wir als Leser aber froh, dass das endlich einer herausgefunden hat. Bis gestern konnten wir uns offensichtlich alle mit unsinnigem Blödsinn beschäftigen und es war uns egal. Aber heute wollen wir etwas Sinnvolles tun – sonst sind wir gestresst.
Weiter geht’s wie folgt: „Ein Drittel der Befragten (34 %) würde sich eine Mischung aus flexiblen und festen Arbeitszeiten wünschen, ein weiteres Drittel (33 %) sähe sogar gerne ein völlig flexibles Arbeitsmodell.“ Vermutlich wünscht sich ein weiteres Drittel ein Arbeitszeitmodell ganz ohne Arbeitszeiten.
Und viele Befragte interessiert es dabei herzlich wenig, ob die eigenen Wünsche in Bezug auf die flexiblen Arbeitszeiten mit den Wünschen der Kunden in Bezug auf die Erreichbarkeit des Dienstleisters übereinstimmen. Vielleicht sollten sich die Arbeitgeber von dieser Doktrin des Kundenwunsches nach Erreichbarkeit endlich lösen und sich an den Bedürfnissen von Kevin ausrichten.
Was hat Kevin damit zu tun und wer ist dieser Kevin. Kevin könnte auch Sandra heißen, er ist 3 oder 4 Jahre alt und geht seit kurzem in den Kindergarten. Seine Mutter plant den Wiedereinstieg in den Beruf, jetzt wo der kleine Racker halbtags untergebracht ist. Seine Mutter wird im Bewerbungsgespräch gefragt, wann sie morgens anfangen könne. Sie antwortet, dass sie das nicht so genau sagen kann, sie könne sich da nicht festlegen. Der Kindergarten hätte zwar schon früh auf, das wäre nicht das Problem. Aber der Kleine kommt morgens unterschiedlich gut aus dem Bett. Das ginge mal sehr schnell, manchmal würde es aber auch deutlich länger dauern, dann macht Kevin Stress. So gegen halb neun könne sie aber in jedem Fall anfangen, das könnte sie garantieren, also zumindest meistens, bis vielleicht auf wenige Ausnahmefälle, wenn es ganz stressig wird. Der potenzielle Arbeitgeber weist darauf hin, dass seine Kunden früher anfangen und eine Erreichbarkeit ab 8:00 Uhr gegeben sein müsste. Die Mutter gibt zu verstehen, dass das sicherlich meistens klappen würde, aber immer, nein, das könne sie bei den gegebenen Umständen nicht garantieren.
Zuweilen genießt die 100 %ige Ausrichtung auf das morgendliche Aufwachritual der eigenen Kinder Priorität vor den Interessen der Kunden und des Arbeitgebers, und dabei können Mann und Frau in Stress geraten.
Sicherlich ist der skizzierte Fall ein Einzelfall, dass jedoch die persönlichen Interessen mancher Mitarbeiter mehr wiegen als die Interessen der Kunden, die einen schlussendlich bezahlen, tritt durchaus häufiger auf und findet in vielen Mitarbeiterbefragungen seine Bestätigung.
Ergänzend wird in dem Artikel noch auf die „steigende Nachfrage nach Arbeitgeberleistungen, die die Gesundheit und das Wohlbefinden der Mitarbeiter fördern“ hingewiesen. Genau, auch hier ist der Arbeitgeber gefordert. Und wenn der Arbeitgeber sich des Themas annimmt, die Erwartungen und Wünsche der Mitarbeiter abfragt und den Mitarbeitern ihren Wünschen entsprechende Gesundheitsförderungsmaßnahmen anbietet, dann stellt er ziemlich schnell fest, dass diese kaum genutzt werden. Die Chips zu Hause auf der Couch sind aber auch lecker.
Das alles soll nicht bedeuten, dass Arbeitgeber keine Verantwortung für die skizzierten Themen übernehmen und sich mit den Anforderungen und Erwartungen der Arbeitnehmer nicht auseinander setzen sollten. Allerdings sollten sie genauso die notwendige Eigenverantwortung der Mitarbeiter bei den genannten Themen einfordern und fördern und vor allem eine Klärung herbeiführen, welche Verantwortung der Arbeitgeber und welche der Arbeitnehmer zu tragen hat. Und ganz zum Schluss sei darauf hingewiesen, dass viele Stressoren überhaupt nichts mit dem Arbeitsalltag zu tun haben und zudem kann jeder ganz persönlich seine Stressresistenz erhöhen – eigenverantwortlich und gänzlich stressfrei. Denken Sie mal drüber nach.