Erfolgswahrscheinlichkeiten überschätzen (1)

Written by Admin. Posted in Denkfehler, News

Die 52 Denkfehler, die der Künstler des klaren Denkens beherrschen sollte, starten mit „The Survivorship Bias“ und im Untertitel steht „Warum Sie Friedhöfe besuchen sollten“. Zunächst einmal war ich mir unsicher, ob es denn nur die, der oder das Bias heißen muss und habe den Duden bemüht. Der Duden ist für Neutrum, also das Bias.

Darum geht es bei diesem „Survivorship Bias“: Wir überschätzen systematisch die Aussicht auf Erfolg, „weil Erfolge größere Sichtbarkeit im Alltag erzeugen als Misserfolge“. Und weil das so ist, sollten wir uns das bewusst machen und „möglichst oft die Grabstätten der einst vielversprechenden Projekte, Investments und Karrieren“ besuchen, lautet die Empfehlung. „Ein trauriger Spaziergang, aber ein gesunder.“, so endet das Kapitel zum ersten Denkfehler.

Das „wahrscheinlichste Szenario“ bei einer Firmengründung ist, „dass die Firma gar nicht aus den Startlöchern kommt. Das Nächstwahrscheinliche ist der Bankrott nach drei Jahren. Von den Firmen, die die ersten drei Jahre überleben, schrumpfen die meisten zu einem KMU mit weniger als zehn Angestellten.“ Ich habe selbst ein solches KMU, also ein kleines oder mittleres Unternehmen, wobei meines eher ein Kleinstunternehmen mit weniger als 10 Mitarbeitern ist und wir mit Begeisterung für eine gemeinsame Sache arbeiten und unseren Lebensunterhalt davon bestreiten können. Wir finden das klasse! Ich bin so froh, dass ich vor nunmehr knapp 20 Jahren einen riesengroßen „Denkfehler“ begangen habe und ich damals weder die Denkfehler noch die hieraus abgeleitete Empfehlung kannte. Oder ist die Empfehlung gar unsinnig?

Stellen wir uns einmal vor, die Pioniere der Luftfahrt hätten schon etwas von den 52 Denkfehlern gewusst und sie wären über den Friedhof der missglückten Flugversuche geschritten und hätten die unzähligen Abstürze und Bruchlandungen betrachtet. Sie hätten das Grab des Schneiders von Ulm Albrecht-Ludwig Berblinger gesehen, der schon 1811 versuchte, wie ein Vogel mit Flügeln zu fliegen und dabei jäh abstürzte. Sie hätten den Grabstein von Otto Lilienthal gesehen, der 1896 mit einem Hängegleiter tödlich verunglückte. Sie hätten die Gräber von Friedrich Hermann Wölfert und seinem Mechaniker gesehen, die 1897 bei einem Flug mit einem benzingetriebenen Luftschiff ums Leben kamen. Sie hätten auf das Grab von Percy Sinclair Pilcher geblickt, der 1899 bei einem missglückten Gleitflug starb. Und sie hätten die vielen Gräber und Grabsteine zahlreicher weiterer Pioniere der Luftfahrt gesehen. Mit Blick auf diesen Friedhof und unter Kenntnis des „Survivorship Bias“ hätte es für sie nur eine logische Schlussfolgerung geben können: Lass den Quatsch, die Wahrscheinlichkeit, dass es nicht klappt und du abstürzt, ist viel zu hoch.

Wenn die Menschheit sich an solche Ratschläge halten würde, wir würden noch in Höhlen leben. Irgendwann muss einer unserer Vorfahren die vollkommen aberwitzige Idee gehabt haben, dem Feuer näher zu kommen, als man es gemeinhin tun sollte. Hätte er auf den Friedhof all dessen geschaut, was das Feuer bis dahin verschlungen hatte, gäbe es heute kein Grillfleisch! Können Sie sich ein Leben ohne Grillen, ohne Grillwurst und ohne krossen Bauchspeck vorstellen?

Wie die Vorstufen von Bier und Wein wohl geschmeckt haben mögen? Mit sehr großer Wahrscheinlichkeit war geschmacklich Fürchterliches dabei. Der Erfindung von Dampfmaschine, Automobil, Eisenbahn, Fotographie, Stromerzeugung, Telefon, Rundfunk, Fernsehen oder von Fußballstollenschuhen gingen unzählige Fehlversuche voraus. Ich danke den Erfindern, dass sie nicht aufgegeben und so tolle Denkfehler begangen haben, da sie an den Erfolg ihrer Ideen glaubten. Sie hatten noch nichts von „Survivorship Bias“ gehört. Oder haben sie diesen Denkfehler schlichtweg ignoriert?

Kennen Sie Éric Moussambani, auch Éric der Aal genannt. Éric hatte sich in den Kopf gesetzt für sein Land Äquatorialguinea an den Schwimmwettbewerben der Olympischen Spiele 2000 in Sydney teilzunehmen. Éric machte von seinem Recht auf eine Wildcard Gebrauch, mit der Sportler aus kleineren Ländern ohne Erfüllung der Olympianormen die Möglichkeit zur Teilnahme an den Spielen erhalten. Éric konnte allerdings gar nicht schwimmen und erlernte es erst 8 Monate vor den Spielen. Schlussendlich ist Éric 100 Meter Freistil in Sydney in 1:52.72 min geschwommen. Der Olympiasieger Pieter van den Hoogeband aus den Niederlanden brauchte 48,30 sec. Éric schwamm als einziger Teilnehmer in seinem Vorlauf, weil seine beiden Kontrahenten jeweils zwei Fehlstarts hatten und disqualifiziert wurden. Er hatte das Becken und das prall gefüllte Schwimmstadion für sich. Die Menge war begeistert, Éric erhielt stehende Ovationen und stieg erschöpft und glücklich aus dem Becken. Zum Glück sind die Erkenntnisse über menschliche Denkfehler noch nicht bis Äquatorialguinea vorgedrungen.

Ich mache heute wieder gemeinsam mit ein paar Freunden aus Jugendzeiten Musik und wir träumen ab und an von großen Auftritten. Gemeinsam mit meinen Mitarbeitern arbeiten wir daran, Eigenverantwortung in Unternehmen zu stärken, ganz entgegen dem allgemeinen Trend, Bürgerinnen und Bürger zunehmend mehr vor sich selbst zu schützen und Verantwortung zu sozialisieren. Wir sind zuversichtlich, dass wir es trotzdem schaffen und wir mit dieser Geschäftsidee auch noch überleben, auch wenn es sich mit hoher Wahrscheinlichkeit der Denkfehlertheoretiker um einen Überlebensirrtum handelt.

Wenn Menschen aufhören zu träumen, wenn sie keine Visionen mehr haben, wenn sie nicht mehr dem angeblich Unmöglichen hinterher rennen, wenn sie nicht die unzähligen Hinweise der großen Masse der Zweifler und Bedenkenträger widerstehen, dann ist dies das Ende der Evolution und jeglichen Fortschritts. Meine Theorie: Wenn wir nicht mit solchen „Denkfehlern“ ausgestattet wären, dann gäbe es uns schon lange nicht mehr.

Überschätzen Sie bitte weiterhin die Erfolgswahrscheinlichkeiten der Vorhaben, von denen Sie überzeugt sind und die Sie begeistern. Das bedeutet schließlich nicht, dass Sie etwaige Risiken gänzlich außer Acht lassen sollten. Ich mache mir allerdings wenig Sorgen, dass Sie sich nun aus der 20. Etage eines Hochhauses stürzen werden, weil Sie davon überzeugt sind, Sie wären der erste Mensch, der auch ohne Flügel oder Fallschirm fliegen könne. Das wäre mit großer Sicherheit ein Überlebensirrtum. Wenn Sie solche Gedanken haben, sollten Sie zum Arzt gehen, ansonsten landen Sie vorzeitig auf irgendeinem der hier genannten Friedhöfe.

Gründen Sie Unternehmen, träumen Sie von der Musikkarriere, verwirklichen Sie Ihre Träume, streben Sie nach dem Besseren, seien Sie proaktiv und besuchen Sie die Friedhöfe der Gescheiterten möglichst nicht, es könnte Sie vom Fortschritt und vom Spaß abhalten, das wäre zu schade.

Festzuhalten bleibt: Ein Buch über Denkfehler beginnt mit einem Denkfehler, denn die Überschätzung von Erfolgswahrscheinlichkeiten ist Grundlage jeglichen Fortschritts und damit für das Überleben der Menschheit.