Den ERI-Fragebogen sollten Sie nicht einsetzen!
Das sogenannte Effort-Reward-Imbalance-Modell (ERI) des Düsseldorfer Soziologen Johannes Siegrist ist, zumindest liest man dies häufiger, eines der führenden Modelle zur Beschreibung der psychischen Belastung. In seinem Modell beruflicher Gratifikationskrisen sind Dauerstress und hieraus resultierende Folgen wie Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Depression im Beruf eine Folge eines Ungleichgewichts zwischen hoher Verausgabung und als nicht angemessen empfundener, niedriger bzw. fehlender Belohnung. Die Verausgabung kann intrinsisch aus eigenem Antrieb erfolgen, bspw. weil man versucht, seine Aufgabe so gut wie möglich zu machen, oder extrinsisch durch Druck von außen/oben veranlasst sein. Als Belohnung kommen neben Geld auch Aufstiegschancen und Arbeitsplatzsicherheit sowie die bei der Tätigkeit erfahrene Anerkennung in Frage. Der Anspruch des Modells liegt darin, diejenigen psychosozialen Belastungen im Berufsleben abzubilden, die potentiell eine gesundheitsgefährdende Wirkung haben. Zu den Gütekriterien Objektivität, Reliabilität und Validität hat Siegrist selbst veröffentlicht (siehe Siegrist et al. 2004; zur Bewertung des Modells siehe auch „Validierung der Overcommitmentskala“ von Svenja Mareike Schirmer, 2015, http://archiv.ub.uni-marburg.de/diss/z2015/0165/pdf/dss.pdf). Natürlich kommt er wie viele andere Protagonisten auf dem Gebiet der psychischen Gefährdungsbeurteilung zu dem Ergebnis, dass sein Messansatz von höchster Güte ist. Wir werfen nachfolgend mit kritischem Geist einen Blick auf den ERI-Fragebogen.
Im ERI-Fragebogen wird eine 4-stufige Zustimmungsskala – „stimme gar nicht zu“, „stimme nicht zu“, „stimme zu“, „stimme voll zu“ – verwendet.
Zu bewerten sind Aussagen der folgenden Form:
1. Bei meiner Arbeit werde ich häufig unterbrochen und gestört.
2. Die Aufstiegschancen in meinem Bereich sind schlecht.
3. Bei meiner Arbeit habe ich viel Verantwortung zu tragen.
Der Fragebogen bleibt bei den objektiven Belastungsfaktoren. Nachfolgend wird lediglich exemplarisch auf Basis dieser 3 Fragestellungen auf einige relevante und nicht validitätsfördernde Aspekte eingegangen.
Ad 1: Bei meiner Arbeit werde ich häufig unterbrochen und gestört.
Je nach Tätigkeit wird man bei seiner Arbeit häufig unterbrochen. Viele Menschen empfinden diese Unterbrechungen bspw. im direkten Kontakt mit Kunden als anregend, aktivierend und als wichtigen Beitrag zu ihrer eigenen Zufriedenheit. In vielen Berufen ist die Unterbrechung sogar wesentlicher Jobbestandteil. Wer im Sekretariat arbeitet, wird beim Abtippen von besprochenen Bändchen (den jüngeren Lesern sei mitgeteilt, dass es so etwas auch heute noch gibt, bspw. bei Gericht) durch Telefonanrufe unterbrochen. Das gehört zur Arbeitsplatzbeschreibung. Den meisten, die dort arbeiten, macht ihre Tätigkeit Spaß! Die Beurteilung der psychischen Gefährdung mit einer solchen Aussage erfordert also immer eine Nachbetrachtung in Bezug auf die Wirkung der Belastungsfaktoren; die Bewertung alleine bringt rein gar nichts und eine „blinde“ Reduktion der Unterbrechungen würde in einigen Fällen die psychischen Belastungen sogar erhöhen.
Ad 2: Die Aufstiegschancen in meinem Bereich sind schlecht.
Aufstiegschancen in der Hierarchie sind in vielen Branchen und auch Tätigkeitsbereichen schlecht, teilweise sogar kaum gegeben. Es gibt in der Tat viele Mitarbeiter, die überhaupt keine Aufstiegsambitionen (mehr) haben und es gibt Mitarbeiter, die überhaupt nicht aufsteigen möchten und für die dieser Aspekt keine Bedeutung hat. Die Möglichkeit auf etwas, was ich gar nicht will, ist für die Psyche wohl kaum von Relevanz. Nach der Relevanz wird jedoch nicht gefragt.
Ad 3: Bei meiner Arbeit habe ich viel Verantwortung zu tragen.
Und das ist gut so, sagen die einen, das überfordert mich, sagen andere. Oder mit anderen Worten: Die individuelle Wahrnehmung und Bewertung entscheiden über die hieraus resultierende Beanspruchung. Dies verdeutlicht einerseits, dass mit dieser Aussage nur das subjektive Empfinden und nicht das objektive Vorhandensein eines Belastungsfaktors gemessen wird – was ist viel und was ist wenig? Wie will man das Ausmaß an Verantwortung auch objektivieren? Andererseits sagt das Vorhandensein des Belastungsfaktors „viel Verantwortung“ nichts über die Konsequenzen aus. Dasselbe Ausmaß an Verantwortung geht mit völlig unterschiedlichen Beanspruchungen bei Menschen einher. Des einen Leid ist des anderen Freud, sagt ein Sprichwort. Sprichwörter resultieren übrigens sehr oft aus empirischen Erkenntnissen.
Weitere Informationen finden Sie übrigens hier: https://www.uniklinik-duesseldorf.de/unternehmen/insti-tute/institut-fuer-medizinische-soziologie/forschung/the-eri-model-stress-and-health/eri-question-naires/questionnaires-download/
Wenn Sie wissen wollen, wie es Ihren Mitarbeitern geht, und das sollte Sie nicht nur bei einer psychischen Gefährdungsbeurteilung interessieren, dann verwenden Sie besser andere Instrumente.
Empfehlung: Den ERI-Fragebogen sollten Sie nicht einsetzen!